Blockchain ist nicht nur Bitcoin. Blockchain ist viel mehr – und auch die Anwendungsfälle werden zunehmend relevanter. Für den Energiesektor beispielsweise liefert die Technologie die Grundlage für die Dezentralisierung.
Prof. Debora Coll-Mayor spricht mit uns im Interview über nationale und internationale Aktivitäten in der Normung zur Anwendung der Blockchain-Technologie im Energiesektor, die wesentlichen Herausforderungen für alle beteiligten Akteure und aktuelle Arbeitsprojekte.
Prof. Debora Coll-Mayor
Professorin für dezentrale Energiesysteme, Hochschule Reutlingen
Vorsitzende des Normungsgremiums DKE/UK 901.1
Interview mit Prof. Debora Coll-Mayor
DKE: Frau Coll-Mayor, stellen Sie sich unseren Leserinnen und Lesern vor. Wer sind Sie und was machen Sie?
Coll-Mayor: Ich bin Professorin für dezentrale Energiesysteme an der Hochschule Reutlingen. Dort bin ich zum einen klassisch in der Forschung und Lehre aktiv, darüber hinaus aber auch Beauftragte für die Digitalisierung der Hochschule. Ursprünglich komme ich aus Mallorca, wo ich an der Universität ebenfalls als Professorin gearbeitet habe.
Dann bin ich nach Deutschland gekommen und war am Fraunhofer Institut in der Forschung tätig, bevor ich in die Industrie gewechselt bin, um mich dort mit Photovoltaik-Anlagen zu beschäftigen – gleichzeitig als Senior Expert Smart Grids von der technischen und als Business Developer von der geschäftlichen Seite aus. Das war gut, weil ich beide Visionen – Technologie und Geschäftsmodelle – miteinander verbinden konnte. Aber es hat mir auch gezeigt, dass die Implementierung der Forschungsergebnisse in neuen Geschäftsprozessen dieser Branche eine große Herausforderung ist.
Deshalb bin ich seit etwa 2010 in der Normung aktiv und unterstütze damit die Industrie, logische Wege zu finden, um neue Lösungen zu gegenwärtigen Problematiken zu identifizieren. Und so hat mich der Weg auch von der nationalen in die internationale Normung geführt. Ich denke, das hat auch viel mit meinem Selbstverständnis für meine Arbeit als Professorin an der Hochschule Reutlingen zu tun. In einer solchen Rolle übernimmt man sehr viel Verantwortung und kann dazu beitragen, dass Forschung besser in die Industrie integriert wird. Und Standardisierung ist gleichermaßen ein Weg dafür. Insofern ergänzen sich meine beiden Aktivitäten sehr gut.
Neue Technologien machen Konsensentscheidungen in der Normung nicht einfach
DKE: Die Blockchain-Technologie ist in der Normung angekommen. Zuletzt wurde aber deutlich, dass das Thema auf internationaler Ebene nicht von allen Ländern positiv bewertet wird. Ein Antrag für ein Projektkomitee wurde abgelehnt. Was waren die Gründe dafür?
Coll-Mayor: Ich sehe bei der IEC, dass es sehr etablierte Gremien mit Technologien gibt, die jeder akzeptiert und jeder kennt. Die Energiebranche fühlt sich bequem damit und hat über Jahre und Jahrzehnte sehr viele Ressourcen in bestehende Technologien investiert. Dann kommen wir mit der Blockchain, die vollkommen neu ist. Für einen großen Teil der Industrie ist es schwierig, dies als einen Mehrwert für bestehende Geschäftsmodelle zu sehen, denn sie haben schon Lösungen mit anderen Technologien implementiert. Das führt zu Reibungen in den Gremien.
Jedes Land verfolgt außerdem andere Strategien und Interessen. Das betrifft beispielsweise auch die Energiepolitik: Frankreich verfolgt eine Atompolitik – dort stellt sich lediglich marginal die Frage nach einer dezentralen Energieversorgung. Das spiegelt sich auch im Land selbst wider, denn Paris ist der Dreh- und Angelpunkt und symbolisiert damit eine starke Zentralisierung. Das ist in Deutschland anders.
Ich weiß nicht, ob die Ablehnung unseres Antrags ausschließlich an der Gründung eines technischen Komitees gescheitert ist. Vielmehr denke ich, dass es auch um die Frage ging, wer das inhaltlich treiben soll. Auch die Expertinnen und Experten, mit denen ich in meinen internationalen Gremien und Arbeitsgruppen zusammenarbeite, sind nicht alle mit der Blockchain-Technologie vertraut – einfach, weil sie noch sehr neu ist. Es ist schwierig, Entscheidungen zu treffen, wenn die Leute in diesen Gremien sich fragen, warum wir die Bockchain-Technologie brauchen und nicht, welche Lösungen wir eigentlich benötigen. Als Konsequenz bleibt die Diskussion oft auf eine sehr allgemeine Ebene.
Kurz zusammengefasst, es gibt aus meiner Sicht drei Faktoren, die hier eine Rolle spielen: Es existieren bereits bewährte Lösungen. Jedes Land hat unterschiedliche Interessen. Die Blockchain-Technologie ist neu und macht es damit schwierig, fundierte Entscheidungen im Konsens zu treffen.
Für die Industrie ist es nicht einfach, die Blockchain-Technologie als Mehrwert für bestehende und schon lange funktionierende Geschäftsmodelle zu sehen.
Prof. Debora Coll-Mayor
Klar definierte Anwendungsfälle ermöglichen die gleiche Sprache im Kontext der Blockchain-Technologie
DKE: Statt eines technischen Komitees wurde aber eine Working Group gegründet. Welche Ziele verfolgt die Arbeitsgruppe?
Coll-Mayor: Ursprünglich hatten wir zwei Ziele, nämlich die Vorbereitung von zwei Dokumenten. Erstens, ein Upgrade vom Smart Grid Architecture Model (SGAM), damit wir dieses Model auch für die Blockchain-Technologie nutzen können. Wir haben das Problem, dass die Anwendungsfälle in der Energiewirtschaft nicht für das SGAM-Modell angepasst sind, wenn wir die Blockchain-Technologie ins Spiel bringen wollen. Deshalb gab es Diskussionen, wie wir damit umgehen wollen. Und letztendlich gibt es keine andere Möglichkeit als ein Upgrade des SGAM-Modells.
Das zweite Dokument soll die Frage beantworten, welche Rollen die unterschiedlichen Akteure der Energiewirtschaft in der Blockchain übernehmen. Mittlerweile ist für alle Länder bekannt, was eine Verteilnetzwerkbetreiber oder ein Energieversorger ist und welche Aufgaben diese Akteure jeweils haben. Wir sprechen hierbei alle die gleiche Sprache. Aber in dem Moment, in dem wir die die Blockchain-Welt betreten, existieren diese Rolle und Namen nicht mehr. Wir können lange darüber sprechen, aber wir verstehen uns gegenseitig nicht. Deshalb ist es für uns in der Arbeitsgruppe wichtig, Namen und Definitionen für die einzelnen Rollen in der Blockchain-Welt zu vergeben.
In Deutschland haben wir das bereits geschafft, auf internationaler Ebene ist das aber weiterhin schwierig, weil uns die Klarheit bei den verschiedenen Anwendungsfällen fehlt. Wir mussten daher zunächst einen Schritt zurückgehen und haben mit der Analyse von Anwendungsfällen begonnen. Ohne dieses Verständnis ist es nicht zielführend – und auch gar nicht möglich – über die unterschiedlichen Rollen im Kontext der Blockchain zu sprechen.
DKE: Um welche Art von Dokumenten handelt es sich dabei?
Coll-Mayor: Beide Dokumente sind New Work Item Proposals (NWIPs). Es handelt sich sowohl beim Upgrade des SGAM-Modells als auch bei der Beschreibung der Rollendefinitionen jeweils um Technische Spezifikationen, also keine neuen Normen, sondern wirklich Ergänzungen bzw. Erweiterungen zu bestehenden Normen.
Identifikation der im Energienetz vorhandenen Geräte wird Kernelement der All Electric Society sein
DKE: Auf nationaler Ebene haben Sie den Vorsitz vom DKE/UK 901.1. Wo liegen dort die Aufgaben des Gremiums im Blockchain-Kontext?
Coll-Mayor: Im DKE/UK 901.1 haben wir in den vergangenen Jahren konkrete Anwendungsfälle für den Einsatz der Blockchain-Technologie definiert und sind in der Lage, verschiedene Integrationsniveaus der Blockchain zu definieren.
Mittels der Blockchain können beispielsweise Geräte identifiziert werden. Im Bereich der Elektromobilität wird dies bereits mit PKI-Lösungen umgesetzt, also einer Infrastruktur für öffentliche Schlüssel (Public Key Infrastructure). Die PKI-Lösungen ermöglichen aber nicht die Nutzung von Konzepten wie SSI (Self-sovereign identities; selbstbestimmte Identitäten).
SSI erlauben es einer Person, Organisation oder Maschine, eine digitale Identität zu erzeugen und vollständig zu kontrollieren. Das heißt, dass keine Erlaubnis eines Vermittlers oder einer zentralen Partei erforderlich ist. Zudem ermöglichen SSI die Kontrolle darüber, wie die persönlichen Daten geteilt und verwendet werden. Das sind sehr wertvolle Aspekte, die ein auf der Blockchain basierendes Identitätsmanagement gegenüber einer PKI-Lösung ermöglichen kann. Darüber hinaus können wir die Blockchain-Technologie nutzen, um für jedes identifizierte Gerät eine Logdatei bzw. Protokolldatei zur Verfügung stellen, mit zum Beispiel wie viel Energie es produziert hat. Und schlussendlich können wir über die Blockchain-Technologie auch Transaktionen durchführen.
Von diesen drei Phasen sehen wir bei der Identifizierung von Geräten das meiste Potenzial, denn wir brauchen einen dezentralen Weg, um alle Geräte im Netz eindeutig identifizieren zu können. Zentrale Datenbanken sind dafür nicht geeignet, weil wir über Millionen von Autos und Millionen von PV-Anlagen sprechen.
Ein bisschen weitergedacht: Die Identifizierung von Geräten ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie ein Kernelement der All Electric Society sein wird. Geräte müssen über eine Möglichkeit verfügen, ihre Daten für unterschiedliche Geschäftsmodelle nutzen zu können. Wenn wir diese Identifizierung schaffen, dann haben wir die gesamte Infrastruktur für andere Geschäftsmodelle gebaut, zum Beispiel für Dienstleistungen an Netzbetreiber oder die Teilnahme an dezentralen Märkten.
Im DKE/UK 901.1 haben wir die drei Phasen für unsere Anwendungsfälle aggregiert. Für uns ist aus den genannten Gründen die Identifizierung am wichtigsten, weil sie die Grundlage für alle weiteren Phasen darstellt und weshalb wir den Schwerpunkt auf diesen Aspekt legen. Darüber hinaus unterstützen wir als Gremium die internationale Working Group, indem wir die nationale Meinung einholen und die in internationale Normungsarbeit einbringen.
Zentrale Datenbanken sind für die eindeutige Identifikation von Geräten nicht geeignet, weil wir dabei von Millionen Fahrzeugen und PV-Anlagen sprechen.
Prof. Debora Coll-Mayor
KIM-EA als Innovationsprojekt für dezentrales Identitätsmanagement unter Berücksichtigung von SSI
DKE: Geben Sie uns doch bitte einen kurzen Einblick, welche Normungsprojekte im Kontext der Blockchain derzeit relevant sind.
Coll-Mayor: Gerne. Mit KIM-EA haben wir beispielsweise ein Innovationsprojekt in Baden-Württemberg, bei dem es um die Identifizierung von Geräten geht. Wir analysieren dabei alle Konzepte, die es zu dezentralem Identitätsmanagement gibt, und versuchen abzuleiten, welches dieser vorhandenen Konzepte wir für die Energiewirtschaft definieren können. Dazu gehört es auch, einen Prototyp sowie ein Labormuster zu bauen, wo wir die praktische Umsetzung testen können. Vorher müssen wir jedoch noch konkrete Anforderungen definieren und klassifizieren, sodass wir ein Anforderungsprofil erhalten. Und diese Arbeiten machen wir momentan mit KIM-EA.
Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Nehmen wir eine PV-Anlage. Was müssen wir für den Anwendungsfall dieser PV-Anlage wissen? Hierbei spielen unter anderem die bereits erwähnten SSI eine wichtige Rolle. Als Person verfügen Sie über eine Identität, der viele Items zugeordnet sind: Alter, Geschlecht, Größe, Gesundheitskarte, Impfpass, Führerschein etc. Das sind alles Bestandteile Ihrer Identität. Wenn Sie jetzt ein Auto kaufen möchten – welche Informationen benötigt der Autoverkäufer von Ihnen? Vermutlich nicht, ob Sie einen Doktortitel haben oder ob Sie geimpft sind. Sicherlich aber eine gültige Fahrerlaubnis.
Es gibt also verschiedene Items bzw. Faktoren, die für jeden Anwendungsfall individuell zu betrachten sind. Momentan ist es noch so, dass gängige Systeme alle Informationen beinhalten und ausgeben. Wenn Sie Ihren Ausweis zeigen oder hinterlegen, sind alle Daten zugänglich. Das ist aber eigentlich gar nicht erforderlich und widerspricht auch dem Gedanken beim Datenschutz. Bei der Verwendung von SSI ist das nicht der Fall, denn dabei werden für jeden Anwendungsfall nur die individuell erforderlichen Daten bei einer Abfrage ausgegeben. Vereinfacht gesagt: Es handelt sich bei SSI um einen Pass, bei dem Sie selbst entscheiden, welche Informationen eingesehen werden können und welche nicht. Das erfordert aber ein dezentrales System. Und das versuchen wir in KIM-EA zu implementieren.
So gehen wir für die PV-Anlage von Anwendungsfall zu Anwendungsfall vor. Am Ende generieren wir ein System, das entscheiden kann, welche Informationen für welchen Anwendungsfall zur Verfügung gestellt werden sollen. Das ist ein vollkommen anderes Konzept als die Konzepte, die wir heute bereits haben. Es gibt keinen Weg, die Informationen sauber zu filtern. Das ist die Arbeit, die wir derzeit leisten. Und mit der VDE SPEC 90008 („Distributed Ledger Technologien in der Energiewirtschaft“) beschreiben wir detailliert diese Anwendungsfälle.
DKE: Herzlichen Dank für das Gespräch.
Beitrag teilen
Über Prof. Debora Coll-Mayor
Prof. Debora Coll-Mayor hat die Professur für dezentrale Energiesysteme seit 2017 an der Hochschule Reutlingen inne. Davor war sie als Business Developer und Smart Grids Senior Expert in der Firma SMA Solar Technology AG tätig. Ihre Expertise liegt in der Dezentralisierung und Digitalisierung des Energiesystems. Sie hat langjährige Erfahrung mit der Entwicklung von neuen Technologien und derer Zusammenhang mit neuen Geschäftsmodellen.
Seit 2023 leitet sie das Normungsgremium DKE/UK 901.1 „Infrastruktur für den dezentralen Energiehandel“, zuvor das Gremium DKE/AK 901.0.5 „Energy Blockchain“. Auf internationaler Ebene leitet Prof. Debora Coll-Mayor die IEC/SyC Smart Energy/WG 8 „Distributed Energy Trading Infrastructure“.
Beitragsbild: Siarhei / stock.adobe.com
Hinweis: Aussagen und Meinungen von Autor*innen und Gesprächspartner*innen müssen nicht gleichzeitig auch den Ansichten der DKE entsprechen. Mit dieser Plattform regen wir alle Lesenden zu einem freien Austausch und zu fachlichen Diskursen an.
Wir helfen Ihnen gerne weiter
Johannes Stein
DKE Experte All Electric Society
E-Mail: dke-community@vde.com
Marcus Krause
DKE Community Manager
E-Mail: dke-community@vde.com