Oleniczak, Annelie

Oleniczak, Annelie

Lektorat und Online-Redaktion

Chancen und Grenzen einer netzdienlichen, grünen Wasserstoffwirtschaft

Klimaschutzziele, Preisanstiege, Unabhängigkeit – angesichts aktueller und künftiger Herausforderungen steigt die Nachfrage nach Low Carbon Wasserstoff. Noch fehlt es aber an den für eine Wasserstoffwirtschaft notwendigen Grundlagen und wirtschaftlichen Konzepten, zum Beispiel zur netzdienlichen Integration grünen Wasserstoffs mittels Elektrolyseure, um auf Energieschwankungen reagieren zu können. Im Interview rät Dr. Kathrin Goldammer, Geschäftsführerin des Reiner Lemoine Instituts (RLI), den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun. Es gilt, beim Ausbau der Erneuerbaren Energien zu beginnen, um unser Energiesystem auf eine Wasserstoffwirtschaft vorzubereiten.

Dies ist ein Interview mit Dr. Kathrin Goldammer. Das Interview gibt ihre Meinung wieder und stellt nicht unbedingt die Meinung des VDE dar. 

Windkraft und Solar zu Wasserstoff - sinnvoller Weg in der Energiewende

Appel: Zum Einstieg kurz zu Ihrer Person: Wie stehen Sie mit dem Thema Wasserstoff in Verbindung?

Goldammer:
Ich bin Elektrotechnikerin und stehe daher insbesondere mit grünem Wasserstoff in Verbindung, da dieser über die sogenannte Elektrolyse aus Erneuerbaren Energien und Strom gewonnen wird.

Appel: Das aktuelle Herstellungsverfahren von Wasserstoff beruht überwiegend auf fossilen Energieträgern. Schon vor der aktuellen Situation in Europa stand fest, dass dieses Verfahren aufgrund der Klimawirkung nicht mehr zeitgemäß ist. Welches Herstellungs-verfahren erachten Sie im Hinblick auf die Erfüllung der Klimaschutzziele als am zukunftsfähigsten?

Goldammer: Windkraft und Solar werden aus meiner Sicht die größte Rolle spielen, weshalb die Elektrolyse auf dem Weg zum Wasserstoff der Zukunft meines Erachtens das wichtigste Verfahren darstellt. Andere Verfahren wie die Direktverstromung von Abgasen oder Biogas werden unsere langfristigen Energieziele niemals abdecken können und stellen daher keine zukunftsweisenden Alternativen dar. Die Elektrolyse bietet durch chemische Prozesse die Möglichkeit, die ganze Welt der Moleküle zu dekarbonisieren. Wir werden Strom aus Windkraftanlagen und Photovoltaik gewinnen und aus diesem über die Elektrolyse grünen Wasserstoff herstellen. Von der Sonnen- oder Windenergie über den Strom bis hin zu den Molekülen sind hier zwar mehrere Umwandlungsschritte erforderlich, dennoch sehe ich darin den sinnvollsten Weg, wie Wasserstoff einen Beitrag zum Energiegewinn leisten kann. 

Geringer Netzausbau bei gleichzeitiger Netzflexibilität durch Wasserstoff

Appel: Vereinfacht gesprochen integrieren wir mit der Herstellung von Wasserstoff zunächst weitere Stromverbraucher in unser Energiesystem. Mit zunehmenden, fluktuierenden Erneuerbaren Energien wird es immer wichtiger, die Flexibilität im Netz zu erhöhen, um so auch den Netzausbau in einem vertretbaren Rahmen zu halten. Welche Rolle kann Wasserstoff Ihrer Meinung nach in diesem Zusammenhang spielen?

Goldammer: Da Strom sofort „verbraucht“ werden muss, braucht es Speicher. Durch sie kann der Strom zeitlich entkoppelt und später wieder nutzbar gemacht werden. Wasserstoff ermöglicht genau das. Er ist zum einen besser speicherbar als Strom und entkoppelt zum anderen Stromproduktion und Bedarf zeitlich voneinander: es ist die direkte Abfüllung in unterschiedlichen Behältern möglich – von einer kleinen Flasche in eine größere bis hin zu einer Gaskaverne.

Wasserstoff ist hier eine Flexibilitätsoption für das Netz, da wir Strommengen in Wasserstoff umwandeln und auf diese Weise speichern können. Es ist jedoch auch möglich den Strom direkt in elektrochemischen Batterien zu speichern. Wasserstoff und Batterien stehen hier durchaus in Konkurrenz. Wenn sich die Batterietechnik deutlich weiterentwickelt, wirtschaftlicher wird, höhere Strommengen umwandeln und einspeisen kann, wird sich diese als Flexibilitätsoption durchsetzen und der Wasserstoff wahrscheinlich stärker im Bereich Langzeitspeicherung – die Überbrückung von Tagen oder Wochen – und Power-to-X eine Rolle spielen.

Anreize – Chance und Hürde einer erfolgreichen Wasserstoffwirtschaft

Appel: Nicht alle Wasserstoffproduktionsanlagen werden künftig flexibel in das Netz eingebunden werden können, weil die Abnehmer natürlich auf die Wasserstofflieferungen angewiesen sind. Beispielsweise für Kommunen kann sich die netzdienliche Fahrweise jedoch lohnen. Hier dienen Elektrolyseure als flexibles Lastenmanagement auf der Nachfrageseite, um auf variable EE-Produktion reagieren zu können.

Unter welchen Voraussetzungen können wir die an dieser Stelle noch geringe Wirtschaftlichkeit von Elektrolyseuren über die netzdienliche Fahrweise erhöhen?

Goldammer: Wir haben gerade eine Studie zu dezentralen Elektrolyseuren durchgeführt und festgestellt, dass Netzgebiete mit einem sehr hohen Anteil an Erneuerbaren Energien bereits heute wirtschaftlich sein können. Im Normalfall muss ein Netzgebiet mit einem hohen Anteil an Erneuerbaren Energien zum Beispiel Verteil- oder Mittelspannungsnetze stark ausbauen, um diese hohen Strommengen aufnehmen zu können. Der Elektrolyseur kann hier Abhilfe schaffen und gleichzeitig seine Wirtschaftlichkeit erhöhen.

Das Problem ist lediglich, dass beispielsweise der Netzbetreiber keinen Elektrolyseur betreiben kann. Grund dafür ist die sogenannte Anreizregulierung, die es dem Betreiber nicht ermöglicht, die für ihn existierenden Optionen, wie das Verlegen eines Kabels und die Installation eines Elektrolyseurs, miteinander zu vergleichen. Wir brauchen daher mehr Anreize für eine Art gesamte Netzplanung und eine systemische Betrachtung, wie sich Stromnetze, Gasnetze und zukünftige Wasserstoffnetze gemeinsam wirtschaftlich betreiben lassen.

Appel: Das ist ein guter Übergang zur nächsten Frage, denn nicht nur das Stromnetz wird zukünftig Wasserstoff in das Gesamtportfolio aufnehmen, sondern auch das Gasnetz. Hier kommt oftmals der Wärmemarkt zur Sprache. Müssen Verbraucher und Verbraucherinnen ihre weit verbreiteten Gasheizungen gegen neue austauschen, wenn der Wasserstoffanteil im Gasnetz steigt?

Goldammer: Die Frage wäre, inwiefern es ein realistisches Szenario ist, in einer solchen thermischen Umsetzung zu bleiben und hier zukünftig, statt konventionellem Erdgas, gegebenenfalls Methan oder Erdgasgemische mit grünem Wasserstoff beizufügen.

Alle Studien, die ich hierzu kenne, zeigen, dass es nur wenige Gebäude geben wird, in denen das schlussendlich die wirtschaftlichste Variante ist. Für die meisten Gebäude ist es wirtschaftlicher, eine elektrische Form der Heizung wie die Luft- oder Erdwärmepumpe zu verwenden.

Im Moment sehe ich für Wasserstoff daher noch keinen großen Anteil an der Wärmeerzeugung, sondern stelle mir die Frage, wie das zukünftige Geschäftsmodell für die heutigen Gasnetzbetreiber aussehen soll.

Direktstrom und die Rückverstromung durch Wasserstoff im Vergleich

Appel: Wie beurteilen Sie schlussendlich das Thema Rückverstromungsoption von Wasserstoff?

Goldammer: Im Haushalt oder im Gewerbe im Bereich der kleinen, dezentralen Anlagen kann ich mir eine solche Option nicht vorstellen. Hier wird aus meiner Sicht wahrscheinlich Strom direkt verwendet und Wasserstoff nur in seltenen Fällen vorkommen.

Für das Gesamtenergiesystem in Bezug auf das klassische Power-to-X und die Überbrückung einer Dunkelflaute ist das hingegen durchaus vorstellbar.  Wenn wir denn bis 2040 oder 2050 nahezu hundert Prozent Erneuerbare Energien im Strombereich haben.

Appel: Können Sie sich stattdessen reversible, netzdienlich angeschlossene Brennstoffzellen, die in beide Richtungen eingebunden sind und sowohl Wasserstoff produzieren als auch Rückverstromung leisten, auf einer kommunalen Ebene vorstellen?

Goldammer: Hier würde ich zunächst weitere Studien und Beispiele abwarten. Im Moment sehe ich aufgrund der vielen existierenden Direktstrommöglichkeiten keinen großen Bedarf. Da ich aus dem Strombereich komme, wird sich hier aus meiner Sicht mehr und vieles schneller ergeben als im Bereich der Brennstoffzellen.

Appel: Der Schwerpunkt der Wasserstoffbedarfe liegt derzeit auf der Anwendung im industriellen Bereich wie beispielsweise der Chemie-, Stahl oder Papierindustrie. Ich verstehe aus Ihren Worten, dass der Bedarf für Rückverstromung ebenfalls eine Rolle spielen wird?

Goldammer: Ja, aber meines Erachtens verstärkt im Kontext der Aufrechterhaltung der Stromversorgung und weniger im Kontext einer Anwendung.

Die Bedeutung der Normung für die netzdienliche Integration von Wasserstoff

Appel: Wie kann Normung dabei helfen, die bestehende Energieinfrastruktur auf die verstärkte Einspeisung von Wasserstoff vorzubereiten und den netzdienlichen Einsatz zu verbessern?

Goldammer: Meinem Verständnis nach hilft Normung bei der Kompatibilität und Interoperabilität sowie der richtigen Entscheidungs-findung. Sie gibt Sicherheit darüber, dass gewisse technische Handlungen Bestand haben und mit anderen Komponenten zusammenpassen. Im Zusammenhang von neuen Techniken oder Technologien bedeutet das für mich, dass viel Potential verloren geht, sofern wir die wichtigsten Standardisierungs- und Normungsfragen erst sehr spät klären. Das wird den Rollout von allen neuen Techniken verzögern, seien es Elektrolyseure oder Beimischungen im Gasnetz. All diese Dinge sind noch nicht auf den Begriff „Wasserstoff-wirtschaft“ vorbereitet. Allein die Tatsache, dass wir noch nicht einmal genau definieren können, was grüner Wasserstoff ist, zeigt, dass es noch viel zu tun gibt. Die Normung kann dabei helfen, hier schneller zu werden.

Am Anfang steht der Ausbau der Erneuerbaren Energien

Appel: Wie beurteilen Sie schlussendlich die Bezeichnung von Wasserstoff als „Öl der Zukunft“?

Goldammer: Ich habe schon viele Bezeichnungen für Wasserstoff gehört. Zum Beispiel der „Champagner“ oder sogar der „Käse“ der Energiewende. Letzteres betonte erst kürzlich meine Kollegin, denn Wasserstoff sei, wie der Käse aus der Milch, ein aus Erneuerbaren Energien hergestelltes konzeptives Produkt. 

Meiner Meinung nach dürfen alle Bezeichnungen verwendet werden, sofern durch sie klar wird, dass Wasserstoff ein seltenes Produkt ist, das vorsichtig verwendet werden sollte.

Es ist wichtig, nicht zu vergessen, woraus Wasserstoff zukünftig hergestellt wird – nämlich aus Erneuerbaren Energien. Einen Begriff zu finden, der noch mehr auf die Notwendigkeit der Erneuerbaren Energien einzahlt, wäre mir daher noch lieber. Die Tatsache, dass eine Wasserstoffwirtschaft ohne den Ausbau und die Förderung Erneuerbarer Energie nicht funktioniert, geht in der Diskussion oft unter. Hier gilt es, den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun.

Appel: Das sind großartige Schlussworte. Frau Goldammer, vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Artikel ist ursprünglich in der englischen Version auf dem LinkedIn Kanal der DKE erschienen: Limits and Opportunities of a Grid-serving, green Hydrogen Economy | LinkedIn

Zur Person

Porträt Dr. Kathrin Goldammer
Kathrin Goldammer / private Quelle

Dr. Kathrin Goldammer ist Expertin für Energiewirtschaft und Energietechnik. Als Geschäftsführerin des Reiner Lemoine Instituts in Berlin ist sie für dessen wissenschaftliche und kaufmännische Leitung zuständig.

Sie studierte Elektrotechnik und promovierte 2007 in Physik; danach begann sie ihre Karriere in der Energiewirtschaft. 
Im Jahr 2018 gründete sie außerdem die Firma Localiser RLI GmbH, die Software für Ladeinfrastrukturplanung für Elektro-mobilität entwickelt.

Kathrin Goldammer hat verschiedene Ehrenämter, u.a. ist seit 2021 Sprecherin des Berlin-Brandenburger Clusters Energietechnik. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Konferenz “Antriebe und Energiesysteme von morgen” der Automobiltechnischen Zeitschrift (ATZ). Auch ist Frau Goldammer Mitglied des Beirats des Leibniz-Forschungsverbunds Energiewende. Sie ist ehemaliges Mitglied des Vorstands und aktuell Regionalverantwortliche des Hydrogen Power Storage & Solutions East Germany e. V. (HYPOS) und gehörte 2020 zum Gründungsteam der Women in Green Hydrogen. Im Dezember 2021 wurde Kathrin für zwei Jahre in den Beirat für die Wasserstoff-Roadmap des Landes Baden-Württembergs berufen.

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