Dies ist ein Gastbeitrag von Univ.-Prof. Dr.-Ing. Markus Zdrallek. Der Gastbeitrag gibt die Meinung des Autors wieder und stellt nicht unbedingt die Meinung des VDE dar.
Interview mit Univ.-Prof. Dr.-Ing. Markus Zdrallek
Oleniczak: Herr Professor Zdrallek, wie sieht das Energiesystem der Zukunft aus und welche Rolle spielen Energiespeicher darin?
Zdrallek: Das Energiesystem der Zukunft ist ein vollständig CO2-neutrales und regeneratives System, das auf regenerativ erzeugtem Strom aus Windkraft, Wasserkraft und Photovoltaik sowie Wasserstoff basiert.
Allerdings können wir elektrische Energie nur im Gasnetz, in Form von Wasserstoff oder in chemischer Form zwischenspeichern. Daher brauchen wir im Energiesystem der Zukunft beide Komponenten. Es wird keine All-Electric-World sein, da wir im Stromsystem nicht genügend Speichermöglichkeiten haben, um die im Sommer produzierte Energie für den Winter zu speichern.
Für die Kurzzeitspeicherung hingegen gibt es viele Möglichkeiten: Batteriespeichersysteme, mobile Batterien in Elektrofahrzeugen oder Pumpspeicherkraftwerke. Für die langfristige oder saisonale Speicherung sehe ich nur die chemische Option. Da kristallisiert sich der Wasserstoff als Speichermedium heraus, den wir möglichst mit grünem Strom erzeugen. Es wird uns allerdings nicht gelingen, die gesamte in Deutschland benötigte Energie auch in Deutschland zu erzeugen. Wir werden auch im Energiesystem der Zukunft Energie importieren.
Heute führen wir über 85 Prozent unserer Energie im Wesentlichen in Form von Mineralöl oder von Erdgas ein. Entsprechend müssen wir künftig regenerativen Wasserstoff importieren, und zwar aus sonnenreichen Ländern, in denen wir grünen Wasserstoff sehr viel günstiger produzieren können als bei uns. Um die benötigte Energie komplett in Deutschland zu erzeugen, müssten wir noch weit mehr Windkraft- und Photovoltaikanlagen installieren. Das werden wir nicht schaffen, denn irgendwann ist die Akzeptanzgrenze der Bevölkerung erreicht.
Grüner Wasserstoff ist auf lange Sicht der Energielieferant und die Speichertechnologie der Zukunft
Zdrallek: Ein wichtiger Vorteil ist, dass wir Wasserstoff in Deutschland herstellen können. Voraussetzung dafür ist ein Überschuss an regenerativem Strom. Außerdem können wir den größten Teil der heute bereits vorhandenen Erdgasinfrastruktur für Wasserstofftransporte nutzen. Wir müssen das System lediglich schrittweise umstellen. Da gibt es erste Aktivitäten, jedoch ist man hier noch nicht so weit wie bei der Energiewende auf der Stromseite.
Oleniczak: In der öffentlichen Diskussion ist immer wieder zu hören, dass bei der Herstellung von Wasserstoff klimaschädliche Emissionen freigesetzt werden. Wie sehen Sie Vorbehalte wie diesen?
Zdrallek: In einem vollständig CO2-neutralen und regenerativen System kommt natürlich grüner Wasserstoff zum Einsatz. Vor dem Jahr 2050 oder 2055 ist dies kaum zu schaffen. In der Übergangsphase werden wir auch auf blauen, grauen oder andersfarbigen Wasserstoff angewiesen sein. Es gibt eine ganze Farbpalette, wobei jede Farbe für eine bestimmte Herstellungsart steht. Der Wasserstoff wird deswegen so bedeutsam sein, weil wir ihn so einfach importieren können.
Mein Kollege Moser aus Aachen hat hierzu einen schlichten Dreisatz aufgestellt: Wenn man heute unseren gesamten Endenergieverbrauch pro Jahr zusammenzählt, also Strom, Autofahren, Heizen und so weiter, dann entspricht das ungefähr 2.500 Terawattstunden. Das ist eine unvorstellbar große Strommenge! Die kühnsten Prognosen in Bezug auf die Ernte an regenerativen Energien wie Wind und Photovoltaik in Deutschland liegen bei 1.000 Terawattstunden. Also: 2.500 Terawattstunden brauchen wir, 1.000 Terawattstunden können wir selbst produzieren. Die Eigenerzeugung im eigenen Land von 1.000 Terawattstunden heißt, wir müssen viermal so viel erzeugen wie heute. Mit Effizienzsteigerungen können wir unseren Verbrauch auf 2.000 Terawattstunden drosseln. Damit bleibt immer noch eine Lücke von 1.000 Terawattstunden. Daher sind wir auch in Zukunft auf Energieimporte angewiesen.
Die Energiewende ist ein Marathon, "The German Energiewende" hat sich im Ausland als Blaupause und Markenzeichen etabliert
Oleniczak: Wir laufen bei der Energiewende also keinen Sprint, sondern eher einen Marathon?
Zdrallek: Das stimmt. Diese Energiewende ist ein Marathon, das wird in der politischen oder öffentlichen Diskussion häufig übersehen. Ich verstehe die jungen Leute, die freitags auf die Straße gehen und sagen, wir müssen schneller sein mit unserer Energiewende, wir müssen diesen Klimawandel viel schneller stoppen als wir das im Moment tun. Man muss aber auch den großen Schritt sehen, den wir in den letzten 15 Jahren gemacht haben, seit wir uns ernsthaft mit der Energiewende beschäftigen.
Nehmen Sie das Stromsystem: vor 15 Jahren waren wir bei fünf Prozent regenerativen Strom, jetzt sind wir bei fast 50. Natürlich geht die Umstellung auf regenerative Energien noch nicht schnell genug. Da verstehe ich die Ungeduld der jungen Leute. Aber wir haben auch schon viel geschafft. Das ist nicht nur eine Frage von politischen Entscheidungen. Es gilt auch konkrete technische Probleme bei Energiespeicherung und Stromnetzausbau zu lösen. Das geht nicht von heute auf morgen.
Oleniczak: Was sind für Sie die größten Irrtümer der Energiewende?
Zdrallek: Den größten Irrtum haben wir eben schon angerissen. Wenn man die öffentliche Diskussion verfolgt, kommt man zu dem Ergebnis, das nicht viel passiert ist und wir viel mehr schaffen müssen. Das stimmt nicht: Das Land und die Energieversorger haben viel geleistet. Vor 15 Jahren waren wir bei fünf Prozent, heute haben wir einen Anteil von 50 Prozent regenerativer Energie am Stromverbrauch. Aber natürlich müssen noch mehr investieren und schneller werden in dieser zweiten Phase der Energiewende.
Dass diese Energiewende besser ist als ihr Ruf, hat man im Ausland verstanden: viele schauen hoffnungsvoll auf Deutschland. Vor der Corona-Krise war ich oft auf internationalen Tagungen und Kongressen. Dort waren China und die großen Schwellenländer wie Indien und Brasilien sehr interessiert an den Entwicklungen in Deutschland. Denn was im hochindustrialisierten Deutschland funktioniert, kann für diese Länder eine Blaupause sein Im angloamerikanischen Sprachraum spricht man sogar von „The German Energiewende“.
Ein weiterer Irrglaube im Zusammenhang mit der Energiewende ist, dass der Klimaschutz alleinige Triebfeder ist – obwohl dieser natürlich besonders wichtig ist. Auch der Ressourcenverzehr ist ein wichtiger Grund für die Energiewende. Unsere Ressourcen sind endlich, das wusste der Club of Rome schon in den 1960er Jahren. Unsere Vorräte an Erdöl und Erdgas reichen noch maximal 50 bis 60 Jahre, mit den Kohlereserven kommen wir nur wenig länger aus.
Deutschlands Spitzenposition weiter ausbauen
Oleniczak: Wie schätzen Sie Deutschlands Position im internationalen Vergleich ein? Welchen Beitrag kann jeder Einzelne zum sorgsamen Umgang mit Natur und Ressourcen leisten?
Zdrallek: Wie bereits gesagt wird die deutsche Energiewende weltweit sehr viel besser bewertet als bei uns in Deutschland. Andere Länder holen auf, was zum Beispiel den Zubau der regenerativen Energien angeht. Italien und Spanien haben inzwischen sehr viel größere Zuwachsraten bei der Photovoltaik als wir. Dort scheint natürlich auch mehr Sonne als bei uns in Wuppertal. Aber nach wie vor sind wir in Deutschland, was den Umbau des Energieversorgungssystems angeht, weit vorne. Diese Spitzenposition müssen wir halten. Hier ist insbesondere die Politik in der Verantwortung. Inzwischen sind sich ja auch fast alle Parteien einig, in welche Richtung das laufen muss.
Kommen wir zu dem, was der Einzelne tun kann. Man muss seine eigene Lebensweise hinterfragen. Lassen Sie mich ein wenig ausholen. Wir haben uns an meinem Lehrstuhl intensiv mit Netzplanungen im Rahmen der Elektromobilität beschäftigt, für viele Stromnetzbetreiber hat dieses Thema eine enorme Bedeutung. Die besorgte Frage lautet: Was macht die Elektromobilität mit meinem Netz? Es gibt umfassende Studien über das Mobilitätsverhalten der Deutschen. In verschiedenen Statistiken wurde festgestellt, dass 25 Prozent aller Wege, die mit dem Auto gefahren werden, unter 1,5 Kilometer lang sind, eine für mich erstaunliche und auch erschreckende Erkenntnis. Zum Brötchenholen oder zum Alte-Herren-Fußball, wo ich heute Abend wieder hinfahre, kann man auch mit dem Fahrrad oder Elektrofahrrad fahren, das wäre ein Anfang im Kleinen.
Ein weiterer Punkt sind die Photovoltaiksysteme. Sie kommen nun immer stärker in den Bereich der Wirtschaftlichkeit, obwohl die Förderung zurückgefahren wird. Früher kamen für eine Installation nur Süddächer infrage, heute auch Ost- und Westdächer, weil sich die Wirkungsgrade der Photovoltaikzellen stark verbessert haben. Auch da kann man anfangen, zumal es günstige Finanzierungsangebote von Banken gibt.
Der dritte Punkt ist die Anschaffung eines Elektroautos, bei dem es noch Berührungsängste gibt. Wenn ich das Fahrzeug mit einer PV-Anlage und einem Speicher verbinde, steigt der Nachhaltigkeitsgrad noch einmal deutlich.
Jeder Einzelne kann also viel tun. Es kommt darauf an, aktiv zu werden. Es gibt nichts Gutes außer, man tut es.
Oleniczak: Herr Professor Zdrallek, ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Zeit, die interessanten und vielfältigen Ausführungen rund um Energie, Energiewende und den Ausblick in die Zukunft.
Das Interview mit Univ.-Prof. Dr.-Ing. Markus Zdrallek wurde aufgezeichnet. Sie können sich die Videoaufzeichnung im folgenden anschauen.
Zur Person
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Markus Zdrallek ist Experte für Energieversorgungstechnik.
Von 2000 bis 2010 war Prof. Zdrallek in verschiedenen leitenden Funktionen des Energieversorgungsunternehmens RWE in Siegen, Brauweiler, Neuss und Warschau tätig – zuletzt als Prokurist der RWE Rhein-Ruhr Netzservice GmbH.
Seit April 2010 ist er Professor an der Bergischen Universität Wuppertal, Leiter des Lehrstuhls für Elektrische Energieversorgungstechnik. Gleichzeitig ist Prof. Zdrallek wissenschaftlicher Direktor der Neuen Effizienz – Bergische Gesellschaft für Ressourceneffizienz mbH.