Wie kann die Industrie Flexibilität für das Energiesystem bereitstellen?

Zwei Experten äußern sich zur Frage, wie die Industrie Flexibilität für das Energiesystem bereitstellen kann.

Sie diskutieren technische Voraussetzungen, rechtliche Rahmenbedingungen, die Rolle von Normen und Standards und die Anforderungen an IT-Sicherheit, Datenschutz und Resilienz der Systeme.

Ein Beitrag von Martin Lindner und Leonhard Kunz.

1. Technische Voraussetzungen

DKE: Welche technischen Voraussetzungen müssen in Produktionsanlagen geschaffen werden, um Energieflexibilität zu ermöglichen und einen Beitrag zur Netzstabilität zu leisten? Welche Rolle spielen dabei Energiemanagementsysteme und die Anbindung an übergeordnete Netzinstanzen?

Martin Lindner:

„Um Energieflexibilität in Produktionsanlagen zu ermöglichen und zur Netzstabilität beizutragen, müssen bestimmte technische Voraussetzungen erfüllt sein.

Zunächst müssen Daten zum Energieverbrauch kontinuierlich aufgezeichnet und analysiert werden, wofür Energiemanagementsysteme (EMS) unerlässlich sind. Diese EMS-Systeme überwachen den Energieverbrauch in Echtzeit und ermöglichen eine umfassende Datenanalyse, um Optimierungspotenziale zu identifizieren. Darüber hinaus müssen die Anlagen steuerbar sein, idealerweise automatisch und gegebenenfalls mit externem Zugriff, um schnell und effizient auf Netzanforderungen reagieren zu können. Es ist entscheidend, dass die Anlagen entsprechend ihrem nutzbaren Flexibilisierungspotenzial erfasst und klassifiziert sind, um gezielte Maßnahmen umsetzen zu können.

Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die wirtschaftlichen Anreize: Die Kosten und potenziellen Erlöse für Flexibilisierungsmaßnahmen müssen transparent und attraktiv sein, um Unternehmen zur Teilnahme zu motivieren. Schließlich müssen die Zielmärkte, auf denen die Flexibilitätsmaßnahmen umgesetzt werden sollen, klar definiert sein.

Eine nahtlose Integration und Kommunikation zwischen Produktionsanlagen und dem Stromnetz sind essenziell.“

Leonhard Kunz:

„Zum Erreichen von Energieflexibilität in Produktionsanlagen muss zunächst einmal ein grundsätzliches Aufbrechen der getakteten Prozesssteuerung erreicht werden. Nur, wenn Prozesse überhaupt flexibel unterbrechbar und Prozessschritte einzeln parametrierbar werden, ergeben sich die notwendigen Spielräume, die Energiemanagementsysteme nutzen können.

In der Smartfactory-KL verfolgen wir daher eine modulare Prozesssteuerungsarchitektur, die auf uniformen Steuerungsinterfaces aufsetzt, die mit Open-Source-Protokollen wie beispielsweise OPC-UA ansteuerbar sind. Dabei sind Eingriffsmöglichkeiten in den Prozess und Möglichkeiten zur Parametrierung des Prozesses bereits angelegt; auch eine Datenaggregation nach oben ist dann möglich. Die Bottom-up-Nutzung von Open-Source-Protokollen und standardisierten Steuerungsinterfaces erfordern allerdings ein gewisses Commitment und höhere Standardisierungsaufwände. Die Smartfactory-KL beteiligt sich deshalb an Standardisierungsbemühungen der Industrial Digital Twin Association (IDTA).“

Anlagen müssen entsprechend ihrem nutzbaren Flexibilisierungspotenzial erfasst und klassifiziert werden, um Maßnahmen umsetzen zu können.

2. Rechtliche Rahmenbedingungen

DKE: Welche rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere im Hinblick auf die Präqualifikation und Vermarktung von Flexibilitäten, sind notwendig, um Industrieunternehmen die Teilnahme an Flexibilitätsmärkten zu ermöglichen? Wie können regulatorische Hürden abgebaut und Anreize geschaffen werden?

Martin Lindner:

„Das Kopernikus-Projekt SynErgie empfiehlt dringend, parallel zur geltenden Sonderregelung so früh wie möglich im Jahr 2024 gemeinsam mit Wissenschaft und Industrie einen einfachen, flexibilitätsfördernden und vor allem anwendbaren regulatorischen Rahmen zu entwickeln, der über das Jahr 2025 hinaus Planungssicherheit bietet.

Das Kopernikus-Projekt SynErgie empfiehlt den aktuellen Entwurf des Beschlusses BK4-22- 089A01 zu erweitern, um nachzuholende Leistungserhöhung zur Erfüllung des Produktionsplans grundsätzlich und unabhängig von Sonn- und Feiertagen zu ermöglichen. Es empfiehlt daher auch, den Referenzpreis bei der Berücksichtigung von Leistungsreduktionen oder -erhöhungen in Zeiten besonders hoher beziehungsweise niedriger Preise so zu wählen, dass Unternehmen auf Basis tatsächlicher Preissignale ihren Energieflexibilitätseinsatz wählen können.“

Leonhard Kunz:

„Ein primärer Anreiz für die Nutzung von Flexibilitätspotentialen sind flexible Preisstrukturen beim Bezug von Energie von außen. Dynamische Tarife mit entsprechender Rechtslage bei den Anbietern bildeten hier die Grundlage, ebenso wie technische Schnittstellen für die Einbindung in Energiemanagementsysteme. Zudem spielen die Themen Eigenproduktion sowie Einspeisevergütung eine wichtige Rolle beim Engagement von Industrieunternehmen im Bereich Eigenbedarfsabdeckung und Teilnahme an Energiemärkten.“

Flexible Preisstrukturen und dynamische Tarife sind beim Bezug von Energie ein wichtiger Anreiz für die industrielle Nutzung von Flexibilitätspotenzialen.

3. Normen und Standards

DKE: Welche Rolle spielen Normen und Standards wie die IEC 63376 für Energy Resource Aggregation (ERA), die IEC 62872 für Industrial-Process Measurement, Control and Automation sowie die ISO 20140-5 für Industrielle Prozesse, Automatisierung und Integration, um die Interoperabilität und Sicherheit beim Datenaustausch zwischen Industrieunternehmen, Netzbetreibern und Märkten zu gewährleisten?

Martin Lindner:

„Standardisierung, insbesondere für den Informations- und Datenaustausch zwischen allen Teilnehmern (Strommarkt, Netzbetreiber und Unternehmen) sind ein zentraler Bestandteil, um einen energieflexiblen Betrieb zu ermöglichen. Hierfür wurde im SynErgie Projekt das Energieflexibilitätsdatenmodell entwickelt, welches Energieflexibilität in einer standardisierten Form und Syntax beschreibt und übertragbar macht. Die Integration des Energieflexibilitätsdatenmodell in die Asses Administration Shell (AAS, auch Verwaltungsschale genannt) wird im aktuellen Projektverlauf untersucht in Kombination mit OPC UA Companion Specifications.“

Leonhard Kunz:

„Solche Standards gewinnen enorm an Bedeutung, da Energiemanagementsysteme eine zentrale Schnittstelle von Unternehmen nach außen bilden, an die autonome Prozesse angehangen werden können. Diese Standards müssen hierbei sowohl die Entwicklungen im Bereich der Fabrikautomation als auch der sicheren Kommunikation zwischen Unternehmen im Blick behalten. Hier spielen sowohl die Verwaltungsschale sowie Datenräume unter den Prinzipien der Gaia-X-Initiative eine entscheidende Rolle, da diese auch auf europapolitischer Ebene an Bedeutung gewinnen.

In der Smartfactory-KL glauben wir, dass diese Technologien kritische Teile der notwendigen Infrastruktur zum Datenaustausch über Unternehmensgrenzen sein werden und dementsprechend auch Teile von Standardisierungsbemühungen sein müssen.“

Für den Informations- und Datenaustausch zwischen allen beteiligten Akteuren sind Normen und Standards ein unerlässlicher Bestandteil.

4. Informations- und Kommunikationstechnik in Unternehmen

DKE: Wie muss die Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) in Unternehmen ausgestaltet sein, um den bidirektionalen Datenaustausch und die Steuerung von Anlagen im Kontext der Energieflexibilität zu ermöglichen? Welche Anforderungen ergeben sich daraus an die IT-Sicherheit, Datenschutz und Resilienz der Systeme?

Martin Lindner:

„Notwendig ist die Integration von Managementsystemen (ERP, EMS …), um Zustands- und Sensorinformationen verarbeiten zu können. Datenaufnahme, Übertragung und Analyse sollten möglichst in Echtzeit erfolgen, um auf Systemänderungen optimal reagieren zu können. Zudem sind die Einhaltung aller IT-technischen Anforderungen sowie Einbeziehung aller relevanten Stakeholder bei der Implementierung der Systeme zur Befähigung zum flexiblen Betrieb anzustreben.“

Leonhard Kunz:

„Der modulare Ansatz bei der Gestaltung der Produktionsarchitektur basierend auf Open-Source Strukturen, wie er in der Smartfactory-KL verfolgt wird und zuvor beschrieben wurde, ermöglicht den Aufbau hierarchischer Strukturen. Diese haben eine hohe Flexibilität bei der Adaption von Prozessen, was vorteilhaft für die Reaktionsfähigkeit gegenüber dynamischen Märkten und anderen Unsicherheiten ist und die Resilienz erhöht. Insbesondere bei der IT-Sicherheit ergeben sich jedoch große Herausforderungen, da Angreifer nicht erst durch mehrere Schichten durchgreifen müssen, um tief in Prozesse eingreifen zu können oder Zugriff auf Informationen zu erlangen. Andererseits bringen die Modularität und Dynamik der Systeme auch eine Resilienz gegenüber Angriffen durch Reaktionsfähigkeit auf Ausfälle einzelner Knoten.

Auch die Interoperabilität und das Setzen auf einheitliche Schnittstellen bieten Vor- und Nachteile. Zum einen verringert es die Komplexität bei der Prüfung der Systeme und auch die Verwaltung der Sicherheitsstrukturen der Interfaces. Zum anderen betrifft eine Schwachstelle schnell das Gesamtsystem. In einer vernetzten Steuerungsarchitektur muss deshalb darauf geachtet werden, dass Systeme mit regelmäßigen Updates versorgt werden können, was eine große Herausforderung für den reibungslosen Betrieb der Anlagen darstellt.“

Modularität und Dynamik von Systemen sorgen für Resilienz gegenüber Angriffen durch ihre Reaktionsfähigkeit auf Ausfälle einzelner Knoten.

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Über die Interviewpartner

Martin Lindner

Martin Lindner verfügt über ein tiefes Verständnis für die Anforderungen der Industrie. Er forschte an der Technischen Universität Darmstadt am Institut für Produktionsmanagement, Technologie und Werkzeugmaschinen (PTW). In seiner Arbeit konzentrierte sich Martin Lindner auf die Optimierung von Industrieprozessen durch den Einsatz von Digitalisierungstechnologien. Er war beteiligt an dem Forschungs- und Demonstrationsprojekts SynErgie, an dem erforscht, entwickelt und demonstriert wurde, wie energieintensive Produktionsprozesse und Querschnittstechnologien an eine schwankende Stromversorgung anzupassen sind. Ziel ist es, das enorme Flexibilitätspotenzial der Industrie künftig zu nutzen, um zur Stabilisierung des Stromnetzes beizutragen.

Leonhard Kunz

Leonhard Kunz arbeitet im Netzwerk SmartFactory-Kaiserslautern mit, bei dem sich 40 Unternehmen und Forschungseinrichtungen an der Entwicklung und Umsetzung von Industrie 4.0 und der Fabrik der Zukunft verschrieben haben. Ziel ist ein flexibles, effizienteres und nachhaltiges Produktionskonzept. Dafür werden relevante Schlüsseltechnologien wie 5G, Verwaltungsschalen, Safety, Datenräume (Gaia-X), Multiagentensysteme, Künstliche Intelligenz, Systemarchitekturen, autonome Systeme und Mensch-Maschine-Interaktion in einer realitätsnahen Produktionsumgebung getestet und weiterentwickelt.

Beitragsbild: Pugun & Photo Studio / stock.adobe.com

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